Martin Farkas sammelt in Mecklenburg-Vorpommern geschenkte Erinnerungen ein, um zu erfahren „warum wir sind, wie wir sind.“ Heike Heinrich hat den Film gesehen. Er tourt seit kurzem durch die Kinos.
„Demmin ist ne komische Stadt“, sagt ein Gesprächspartner im Interview irgendwann. Da ist der Zuschauer schon sehr angekommen in Demmin, dank eines wunderbaren Films, der beobachtend und fragend, nicht nur mit Hilfe Überlebender, einem historischen Ereignis auf die Spur kommen möchte, sondern auch über das Leben heute in Demmin erzählt.
Am 30. April 1945 erreicht die Rote Armee Demmin, die Kleinstadt im östlichen Norden Deutschlands. Wehrmacht und SS haben die Stadt da schon verlassen und die Bewohner und die hauptsächlich russischen Insassen eines nahegelegenen Kriegsgefangenenlagers sich selbst überlassen. Alle Brücken wurden noch gesprengt. Niemand kann rein und niemand kann raus. Demmin ist für kurze Zeit eine Insel im Mecklenburgischen Seenland. Die Bewohner geraten in Panik. Mehr als 600 Menschen nehmen sich in diesen 2-3 Tagen, bis die sowjetischen Soldaten die Stadt doch erreichen, das Leben. Es sind vor allem Frauen mit Kindern und ältere Frauen. Menschen, die damals Kinder gewesen sein müssen, erinnern sich nun an diese Tage und Ereignisse. Erst langsam, „Es sind ja keine schöne Erinnerungen“, wird da geantwortet. Vor allem die Frauen haben Mühe sich der von verschiedenen Seiten ausgeübten Gewalt zu erinnern. Aber dann immer deutlicher kommen die Bilder zutage. Demmin, so erfahren wir, war eine in sich geschlossene, perfekte Kleinstadt, mit der typisch norddeutschen, roten Backsteinarchitektur. Der Krieg war eigentlich weit weg. Um diesen 30. April herum geht die Stadt durch Brandstiftung in Flammen auf. Ob der Brand in Suizidabsicht gelegt wurde, ob die sich selbstbefreienden Kriegsgefangenen Rache suchten oder russische Soldaten Häuser anzündeten, all das ist nicht mehr zweifelsfrei zu klären. Auch die Ereignisse um den Massensuizid nicht.
Angst, Chaos, Verzweiflung, Schuldgefühle und Scham – all das, was in vielen deutschen Städten angesichts der Kriegsniederlage den Menschen widerfährt, passiert auch in Demmin. Vor allem aber hier, wo die Rote Armee zuerst auf deutsche Städte und Dörfer trifft, ganz im Osten, wirkt die Propaganda der Nazis stark nach. Die Russen töten Kinder und schänden Frauen, sie foltern und brandschatzen, so wurde es jahrelang verbreitet, so wird es geglaubt. Vermutlich entsteht eine hysterische Massenpanik.
Einige überleben, auch ganze Familien, die eigentlich ihrem Leben ein Ende setzen wollten. Russische Soldaten finden sie und retten Mütter und Kinder. Gezeichnet bleibt aber ganz Demmin. 80% der Stadt werden durch den Brand zerstört. Der Wiederaufbau stellt weder die alte Architektur noch die urbane und seelische Geschlossenheit wieder her. Nach dem Krieg, in der DDR, werden die Ereignisse, die bis zur Kapitulation Deutschlands am 8. Mai die Stadt zerrütten, verschwiegen. Wohl auch wegen gewalttätiger Übergriffe durch sowjetische Soldaten, die es gab. Nach 1990 bricht auf, was geschah, nicht zum Vorteil Demmins. Da kommt auch einiges an bisher vergessen geglaubter Nazivergangenheit einiger Familien hervor. So steht Demmin auch beispielhaft für Verdrängen und Verschweigen von Kriegs- und Nachkriegsereignissen, die Familien bis in die heutige Generation prägen.
Martin Farkas führt Interviews und führt dabei durch die Stadt. Das Friedenfest, am 8. Mai durch die Stadt organisiert, will die Wunden heilen. Der jährlich aufgeführte „Trauermarsch“, dessen sich Neonazis bemächtigt haben, um in martialisch dramatischen Reden an die Gräueltaten der sowjetischen Armee zu erinnern und den Toten zu gedenken und natürlich die nicht fehlenden Gegendemonstrationen linker demokratischer aber auch radikaler Kräfte um den 30. April herum bringen Demmin in die Schlagzeilen. Die Polizeipräsenz ist dann in dieser kleinen Stadt übermächtig. So wollen es die meisten, vor allem die Überlebenden nicht.
612 Tote liegen in dem Massengrab, das an den Massensuizid erinnert. Ob alle durch Selbstmord ums Leben gekommen sind, durch den Brand oder durch die Gewalt Dritter muss offen bleiben. 102 tote Kriegsgefangene liegen auf dem sowjetischen Friedhof in Demmin. Auch sie erinnern hier alle an das Geschehene.
Der Bäcker, der Feuerwehrmann, der Restaurator und ihre Familien, die Friedhofsmitarbeiter und Demminer am Rand der alljährlichen Demonstration stehen für die heutigen Generationen, die mit dem Überkommenen in der Gegenwart leben müssen. Ob sie es ihren Kindern erzählen werden? Ja und nein. Ob sie mitgehen, beim Trauermarsch? Ja und Nein. Ob Demmin auch durch diese Ereignisse so eine besondere Form von Verwurzelung bietet? Ja und Nein.
Das Vergangene ist eben nicht vorbei, es ist, so William Falkner, nicht einmal vergangen. Über Leben in Demmin ist ein unaufgeregter, leiser Film, der um ein historisches Ereignis herum, durch Beobachtung dem Beobachter und damit auch dem Zuschauer den Blick in eine Stadtgemeinschaft gewährt. Sowohl die Überlebenden von damals auch die Lebenden von heute bilden einen Querschnitt durch die Gesellschaft. Da wird nichts vorgegeben. Da steht keine Ansicht vorher fest. Das macht den Film so wertvoll. Man kann sich einlassen auf die Demminer. Martin Farkas war bereits bei vier Filmen der Polizeiruf-Reihe aus Rostock als Kameramann tätig, kennt so auch im Blick durch das Objektiv den besonderen Reiz dieser Landschaften in Mecklenburg-Vorpommern.
Die Bilder, die nun die Kamera von Roman Schauerte und Martin Langner liefert, sind voller Farbigkeit: die weißen Plattenbauten von Demmin, die frühlingsgrünen Gärten, die blaue Peene mit Kanal, die in die Ostsee mündet und der blutrote Himmel bei Sonnenuntergang – Bilder einer beinahe entrückten Schönheit, die eben Mecklenburg Vorpommern auch ist und eine eigene Lebensqualität bietet, trotz 20% Arbeitslosigkeit. Der Schnitt von Anne Fabini erzählt grandios die Geschichten mit und verbindet sie fast unmerklich zu einem Weichbild Demmins. Erzählen, damit nichts von all dem vergessen wird. Demmin und die Demminer haben diesen respektvollen Blick verdient. Am Ende heißt es: Fortsetzung folgt…