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Re wie Realitätserkundung

Re: ein neues Reportageprojekt auf Arte oder: Die Reportage hat die beste Zeit noch vor sich

Re: kann vieles heißen, der Reihentitel ist vielfältig auslegbar. Re: wie Realität. Re: wie Relevanz. Re: wie Reaktion im Sinne von Reaktionsfähigkeit. Re: wie Regarde, also Aufmerksamkeit. Oder Re: wie beim Skat, dem „populistischen Kontra ein journalistisches Re“ entgegenzusetzen. So formulierte es Wolfgang Bergmann, Chef von Arte Deutschland. Und auf jeden Fall Re: für Reportage.

Re: ist der Reihentitel eines der ambitioniertesten Projekte, das Arte in den letzten Jahren aufgelegt hat: eine Reportagereihe mit europäischen Themen, an jedem Wochentag, zu bester Sendezeit um 19.45 Uhr. Macht in diesem Jahr 160 Produktionen, die allein aus Deutschland gestemmt werden, zwei Drittel davon liefert das ZDF, ein Drittel die ARD. Für schnelles Re: Reagieren stützt sich das Projekt auf eine Produzentengruppe aus ECO-Media, Spiegel-TV und Kobalt Productions, die auch schon gemeinsame Produktionserfahrung haben.

Man könnte angesichts dieses Beispiels sagen: die Reportage wird als journalistisches Genre immer wichtiger. Nachrichten verlieren an Bedeutung, es gibt sie immer und überall, in Form der Wahrheit ebenso wie der der Lüge. Reportage gibt es in Form der Lüge eigentlich nicht. Reportage heißt immer auch, etwas persönlich in Augenschein zu nehmen. In der Liste der Grimmepreis-Träger in diesem Jahre finden sich mehrere Produktionen, deren besondere Qualität es ist, dass die Autoren vor Ort waren, dass sie hineingegangen sind in die Krisengebiete, international wie auch regional. Krisenzeiten sind Reportagezeiten. So gesehen, könnte man auch sagen: die Reportage hat ihre beste Zeit erst noch vor sich.

Dafür gibt es auch in den anderen Medien Belege. Der Ausgang des Brexit-Referendums oder die Wahl von Donald Trump hat vielen Journalisten erstmal klar gemacht, dass sie auf schmalem Spielfeld spielen. Die amerikanische Presse hat entdeckt, dass sie den Blick auf weite Teil der Trump’schen Wählerschaft verloren hat und das Land möglichweise gar nicht kennt. In Deutschland scheint DIE ZEIT etwas Ähnliches befürchten und hat auf ZEIT-Online mit dem Projekt #D17 reagiert, das vor allem auch Reportagen initiieren will. Unter dem Label „Überland“ berichten Lokaljournalisten aus der Region. In der Reihe „Heimatreporter“ gehen ZEIT-Reporter zurück in ihre Heimatregion, um von dort aus, also vor Ort aus zu schreiben. Jochen Wegner, Chrefredakteur von ZEIT Online begründet das Projekt so: „Wir haben gelernt, dass Journalisten das Gefühl für die Hälfte eines ganzen Landes verlieren können. Dass ganze Gesellschaften verlernen können, miteinander zu reden. Dass Desinformation und Propaganda Erfolg haben können“ Und: „Im Jahr der Bundestagswahl wollen wir darin Deutschland Deutschland erklären. Wir werden nicht auf Wahlprognosen starren, sondern uns da aufsuchen, wo wir nun einmal sind.“

Auch andere Projekte zielen in diese Richtung. Das Recherche-Kollektiv „correctiv“ legt immer wieder auch Reportagen auf, ebenso wie die „Krautreporter“, die mit ihrem Crowdfunding-Projekt den Online-Journalismus promovieren wollen. In der Schweiz hat der bekannte Journalist Constantin Seibt mit „R“ ein unabhängiges journalistisches Online-Großprojekt in Angriff genommen, in dem, so ist aus der publizistischen Agenda zu schließen, die Reportage als Form der Realitätserkundung eine wichtige Rolle spielen wird. Und wer interessante Print-Reportagen lesen will, muss mit seiner Zeit sorgsam umgehen, diverse Aggregatoren eröffnen den Zugang zu vielen Publikationen.  Auf reporter-forum.de findet sich alles, was im Umkreis des SPIEGEL mit Reportage zu tun hat. Liesmich.de eröffnet regelmäßig Links zu interessanten Texten, ebenso reportage.de, die auch den Hörfunk und die entsprechenden Podcasts im Blick haben. Piqd öffnet neben anderen Texten nicht selten auch den Zugang zu Reportagen der englischsprachigen Presse. Und in der Schweiz läuft offenbar erfolgreich das Projekt „Reportagen“, in dem große Reportagen in Form eines Magazins abgedruckt werden, unter dem Untertitel: „Weltgeschehen im Kleinformat“.

Jetzt also Re:  Der erste Eindruck nach den ersten Wochen: anspruchsvoll, ziemlich bis sehr aktuell, manchmal oberflächlich, oft auf Tiefbohrung unterwegs. Auf jeden Fall sehenswert, ein neuer TV-Termin, den man sich merken muss. Die Idee hinter den Re:Portagen: erzählt werden individuelle Geschichten aus verschiedenen Ländern. Kein Europudding, keine Querschnittsgeschichten, sondern konkrete, mit Namen und Gesichtern versehene Geschichten. Die Erzählweise ist klassisch, also ohne ständig durchs Bild laufende Ich-Reporter oder Presenter. Diese Rückbesinnung tut der Reihe gut.

Die vielleicht spannendste Reportage in den ersten Wochen war die Geschichte des schwulen Imam Ludovic Mohamed Zaed, der durch die Lande zieht und einen sexuell toleranten Islam nicht nur fordert, sondern auch lebt. Er trifft zusammen unter anderem mit schwulen Flüchtlingen in Berlin, die einerseits die neue Freiheit auskosten, die sich aber auch von ihrer Religion verabschiedet haben, wegen der Schwulenfeindlichkeit. Daniel Böhm und Katrin Sandmann erzählen hier eine bisher nicht erzählte Geschichte über solche unter der Decke gehaltene Konflikte in den muslimischen Gemeinden, über weiteres Versteckspiel, über Anpassung und Auflehnung. Eine ziemlich nüchterne Zustandsbeschreibung.

Lange im Gedächtnis bleibt das Bild einer Schule in Bosnien-Herzegowina im Film „Liebe unerwünscht“. Sie ist zweigeteilt, den rechten Teil besuchen katholische Schüler, das Gebäude ist renoviert, die Schule wird von einer Stiftung finanziert. Der linke Teil wird von muslimischen Schülern besucht, ist nicht renoviert. Im Geschichtsunterricht werden unterschiedliche Versionen der Geschichte unterrichtet. Quer über den Schulhof läuft ein Zaun, trennt die Schüler. Aus diesem Bild heraus entfaltet der Film von Danko Handrick das Bild einer zerrissenen Gesellschaft, in der katholische Kroaten, muslimische Bosnier und russisch-orthodoxe Serben nebeneinander leben. Aber 17 Jahre nach dem Krieg „ist im Denken immer noch Krieg“, wie ein muslimischer Jugendlicher sagt. Auch viele Familien sind geteilt, zerstritten. Es gibt einige gemischte Paare, aber niemand wollte darüber sprechen, schon gar nicht vor der Kamera. Das ist eine Reportage, die will den Verhältnissen auf den Grund gehen und hat historische Tiefe.

Das lässt sich auch über eine Reportage über Zypern sagen: „Geteiltes Zypern“. Hier liegt der Krieg noch weiter zurück, 1974 zwischen türkischen und griechischen Zypern, eine Konfrontation der Nationalisten auf beiden Seiten. Dann besetzten die Türken den Nordteil Zyperns. Die Teilung hat bis heute Bestand, auch wenn die Grenzregime lockerer geworden sind. In den Kriegsmonaten 1974 gab es auch zahlreiche Massaker, etwa 2000 Menschen sind verschwunden. Archäologen graben heute nach den noch verschwundenen Leichen. Der Film begleitet zwei junge Archäologen, sie eine griechische Zypriotin, er ein türkischer Zypriot. Er schildert die Beerdigung eines Opfers, die Gefühle sind auch 43 Jahre danach aufgewühlt, die Geschichte immer präsent. Bis heute arbeiten beide Inselregierungen mehr auf Trennung als auf das Gemeinsame hin.

Bittere Diagnosen übrigens, wann man das mal schnell zusammenfasst: geteilt, gespalten, zerstritten, unerwünscht. Es steht nicht zum Besten in Europa. Und auch ein Blick in die künftige Entwicklung fällt nicht besser aus. Etwa in „Die Sonntagskrieger“. Vor wenigen Tagen erst konnte man lesen, dass die regierende PIS mehrere Generäle entlassen hat, weil sie der Militärpolitik nicht zustimmten, namentlich dem Aufbau einer Reservearmee aus Zivilisten. Das sind inzwischen mehr als 50.000 Mann, organisiert in 17 Brigaden, die sogar an NATO-Übungen teilnehmen. „Die Sonntagskrieger“ nennt Volker Heimann seinen Film und erzählt von den Motiven und Haltungen jener Polen, die aus einem Patriotismus welcher Art auch immer, sich zu diesen militärischen Übungen melden. Die Begegnung mit den Sonntagskriegern hat in diesem Fall durchaus auch eine komische Seite; in den Drehtagen war es bitter kalt in der Hohen Tatra und die meisten wollten doch lieber nicht im Tiefschnee übernachten und kehrten abends nach Hause zurück. Beängstigender als diese kleine Posse ist die Militarisierung der polnischen Gesellschaft, wie sie schon in den Schulen beginnt, mit militärischem Unterricht, Schießausbildung, patriotischer Unterweisung.

Soweit einige Beispiele. Natürlich sind nicht alle Filme von gleicher Qualität. Man merkt schon auch häufiger die Nähe zu formatiertem Fernsehen. Manche Reportagen sind eher Dokumentationen mit Reportageelementen. „Supermutter & Karrierefrau“ erzählt von der Überforderung der Frauen in der französischen Gesellschaft, in der Kinder schon sehr früh gesellschaftlichen Institutionen überantwortet werden – in der Machart erinnert dieser Film sehr an die stets drei Beispielfälle, wie sie in „37 Grad“ abgehandelt werden. Kurz vor dem Referendum in der Türkei berichtete  in „Gespaltenes Kreuzberg“ John Kantara von den Konflikten in der türkischen Community in Berlin-Kreuzberg. Er traf auf mehrere Protagonisten mit gegensätzlichen Haltungen, deren Wege sich etwas bemüht während des Films immer kreuzen müssen, übrigens nur Männer. Wenig Tiefgang, nicht mehr als eine Momentaufnahme. Die gleiche Herangehensweise hatte übrigens wenige Tage zuvor die ZDF-Reportage „Fern der Heimat – framd in Deutschland“ auf ihrem angestammten Sonntags-Sendeplatz. Sie beschränkte sich nur nicht auf Kreuzberg, sondern fuhr querbeet durch die Republik. Und hatte auch die interessanteren Protagonisten, wie etwa einer jungen angehenden Journalistin, die Erdogan anhängt und gar nichts dagegen hat, wenn das Regime andere Journalisten einsperrt.

Wie sehen die Perspektiven für das Genre Reportage aus? Man findet Reportagen heute im Fernsehen an vielen Programmplätzen, als Wald-und Wiesenreportage im Regionalen, natürlich als Sportreportage und in den News als Kriegsreportage, oft auch als traditionelle Reisereportage wie „360 Grad“. Reportage-Sendeplätze sind häufig formatiert. Es gibt auch Redaktionen, die Neues in diesem Genre versuchen. So etwa beim NDR die Reihe „7 Tage“, in der junge Reporter sich in ihnen unbekannte Welten begeben, um über Erfahrungen zu berichten; die Reihe ist inzwischen etabliert. Meist sind die Filme 30 Minuten lang (die Reportage-Normlänge), gelegentlich auch mehr, wenn es der Stoff hergibt. So etwa in „7 Tage….Istanbul“ in der zwei Reporterinnen sich von jungen Türken die verschiedenen Stadtteile und politischen Szenen in Istanbul zeigen lassen. Eine sehr aufschlussreiche und interessante Herangehensweise, in der auch die beiden Reporter-Ichs sich nicht allzu wichtig nehmen..

Auch werden technische Faktoren die Art der Reportage künftig stärker beeinflussen. Crossmedia ist das Schlagwort der Stunde, alle journalistischen Ausbildungen laufen darauf hinaus, künftige Reporter quer durch alle Medien einsetzen zu können. Es kommen Handybilder ins Spiel. In „Hier und Heute“ im WDR experimentiert die Redaktion mit Reportagematerial, das von Protagonisten selbst gedreht. Das kann Material sein auch für die lange Form wie im Dokumentarfilm „#My Escape“, der Episoden und Szenen aus der Perspektive der Flüchtlinge selbst zeigt. Häufig wird Reportagematerial aus subjektiver Sicht in der Form von Videotagebüchern publiziert, wie etwa auf dbate oder auch bei „Hier und Heute“. Die 360-Grad-Kameras machen grade Karriere. Obs sie neue Erzählweisen ermöglich und welche, das wird sich vielleicht zeigen, wenn das technische Überraschungsmoment des Rundumblicks nicht mehr sensationell sein wird und Fragen der Dramaturgie wieder ins Spiel kommen. Das gilt auch für alles, was nunmehr über virtual reality ins Reportagemetier eingebracht werden wird.

Gleichwohl ist das Technische immer nur ein Seitenaspekt. Reportage ist zuallererst eine Haltung zur Wirklichkeit und ein Versprechen an die Zuschauer. Reportage im Lateinischen heißt so etwas wie Zurückbringen: re-portare. Reporter sind Leute, die an Orte gehen (räumliche, soziale, wissenschaftliche), wo andere nicht hinkommen und von dort etwas zurückbringen, das sie wiederum in einer Form erzählen, die es erlaubt, Zuschauer (oder Leser Hörer) auf diese Reisen visuell und emotional mitzunehmen.

Das ist sozusagen die Kernform der Reportage. Man darf gespannt sein, um wieder von „Re:“ zu sprechen, wie es in dieser Reihe gelingen kann, für die relevanten Geschichten auch die entsprechenden Erzählweisen zu finden, subjektive Handschriften zu fördern, nicht im Formatdenken stecken zu bleiben. Der ZEIT-Reporter Wolfgang Uchatius hat einmal in einem Interview gesagt, bei der Reportage sei es ein Fehler, in Themen zu denken: „Bei der Reportage muss man von Anfang an in Geschichten denken. Nicht sagen: Über dieses Thema müsste man irgendwas machen, sondern fragen: Welche Geschichte haben wir zu diesem Thema?“  Geschichten wie die vom schwulen Imam. Oder die Geschichte von der geteilten Schule.

Reportage ist natürlich immer auch eine Angelegenheit der Autoren: die Welt, gesehen durch das Auge des Reporters oder der Reporterin. Aber das Genre ist auch mehr als eine individuelle Angelegenheit. Reportagen brauchen gute Vorarbeit, langfristiges Denken, alles, was den interessanten Zufall, die interessante Begegnung möglich macht. Re: ist in diesem Sinne auch ein Versprechen, weil hier überindividuelle Kriterien entwickelt werden können. Man muss Reportage wollen. Und dass Arte das will, ist eine der erfreulichsten Programm-Nachrichten der letzten Jahre.

Man könnte natürlich auch noch Egon Erwin Kisch zitieren, den Stammvater der Reportage im deutschen Journalismus (und der deutschen Literatur) mit der berühmten Sentenz aus dem Vorwort von „Der rasende Reporter“: „Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit“. Das Bekenntnis zur Reportage war für Kisch auch eine Kampfansage an die zahlreichen journalistischen Propagandisten, die zu seiner Zeit auch ganz ohne social media aktiv waren. Er wollte, dass in der Reportage die Dinge selber sprechen. Aber er wollte auch nicht bei temporären Beobachtungen stehen bleiben. Er wollte Einordnung in Zusammenhänge politischer, gesellschaftlicher und kultureller Art und dass die Schilderungen über ihre unmittelbare Bedeutung hinaus gehen.  Der Publizist Bruno Frei, der selbst mit Kisch eng zusammenarbeitete, schrieb: „Kisch greift zurück in die Vergangenheit und greift vor in die Zukunft. Und mittendrin, spannungsgeladen, steht der mathematische Punkt der vom Reporter berichteten Wirklichkeit“.

Das, nicht mehr und nicht weniger, könnte Re: leisten. Und man würde sich wünschen, dass auch Arte France einsteigt.

 

Im Text erwähnte Filme:

– „Allah liebt euch alle. Europas erster schwuler Imam“ (R: Daniel Böhm, Katrin Sandmann, K: Florian Henke, Alexander Seidenstücker, Tobias Winkel)

– „Liebe unerwünscht. Der zerrissene Balkan (R: Danko Hendrick, K: Frank Schindler)

– „Geteiltes Zypern. Graben für den Frieden“ (R: Dirk Schraeder, K: Tim Hägele)

– „Die Sonntagskrieger. Polens Zivilisten rüsten auf“ (R: Volker Heimann, K: Jean Schablin)

– „Supermutter & Karrierefrau. Frankreichs Erfolgsmodell in der Krise“ (R: Antje Diller-Wolff, K: Babak Asgari)

– „Gespaltenes Kreuzberg. Deutschtürken vor dem Referendum“ (R: John Kantara, K: Ion Casado, Frederik Klose-Gerlich)

– „Fern der Heimat – fremd in Deutschland“, ZDF Reportage (R:Markus Brauckmann, Andrea Rudnick)

Der Text ist zuerst erschienen in epd-medien 17, 2017.

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