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Zeitgeschichte, Gegenwart, politische Musik

Dokumentarfilme sind Longrunner und manche erreichen auf Dauer und durch Wiederholung viel mehr Zuschauer, als die Programmplaner ihnen eigentlich zugedacht haben. Einige solcher Filme davon sind in dieser Woche ins Programm gelangt, Wiederholungen, auf die zu achten sich lohnt. Highlight dieser Woche ist „Aus dem Abseits“ von Simon Brückner. Der Filmemacher rekonstruiert das Leben seines Vaters Peter Brückner. Der Psychologe war einer der bedeutenden öffentlichen Intellektuellen der 68er Jahre, ein Ungehorsamer mit Zivilcourage, berufsverboten in allen politischen Systemen, eine imposante Figur der Zeitgeschichte. Ihn für eine Filmlänge dem Vergessen entrissen zu haben, ist ein großes Verdienst des Films. Und geradezu aufregend, wie der Autor eine Erzählweise findet, die es erlaubt, die Beziehung zwischen Vater und Sohn zu erzählen, ohne deshalb das Private über das Politische zu stellen. Unbedingt ansehen (3Sat, Mo 29.08.2016,22.25-00.15)

Wegen der Sommerpause nicht rechtzeitig hier annonciert, aber doch dringend zu erwähnen, weil der Film noch in der Mediathek zu sehen ist: „ECHT WIR – So lebt der Westen“. Der lange Dokumentarfilm ist entstanden zum 70.Jahrestag der Verbindung des Bindestrichlandes Nordrhein-Westfalen und ist eine Kompilation aus Videotagebüchern. „Den Bildern von Echt wir ist zwar fast jederzeit ablesbar, dass sie mit einem Smartphone aufgenommen wurden“ schrieb in der SZ Renè Martens, „ein ästhetischer Makel ist das aber nicht, es sind auch nach 180 Minuten keine Abnutzungserscheinungen zu spüren“. Die einzelnen Geschichten sind in der Webdoku im Netz auch einzeln verfolgbar. Die Produktion kommt aus der kleinen WDR-Redaktion von „Hier und heute“ und ist auch nicht das erste, wenngleich auch bisher umfangreichste Projekt dieser Art. Dokumentarische Arbeit mit den Bildern der Protagonisten selbst ist das Credo, Redaktionsleiter Maik Bialk hat diese Idee vor einem Jahr in einem Interview erläutert: „Jeder kann Dokumentarist werden“. Hier ein Link zu diesem Interview.

Wirklich nur etwas für Wochenend-Frühaufsteher ist die Programmierung von „Work hard, Play hard“ von Carmen Losmann. Man fragt sich, wer um diese Tageszeit in der Lage sein soll, einen solchen Stoff einigermaßen bewusst wahrzunehmen: es geht um Arbeit im 21.Jahrhundert, um die maximale Ausbeutung menschlicher Ressourcen in der Arbeitswelt, Selbstausbeutung inklusive. Gut, der Film ist schon öfter gelaufen, aber für Sonntag früh? Vor allem erinnert dieser Film von 2013 aber daran, wie sehr er ein Solitär geblieben ist. Arbeitswelten, Arbeitspsychologien, Arbeitsstrukturen –  das ist höchstens mal Thema des handzahmen Erklärfernsehens, aber selbst da kaum. Denn die Wirtschaftswelt steht dem Fernsehen nicht grade offen, dort fährt man eine eigene Agenda, eine eigene, von den Unternehmen selbst kontrollierte Bild- und Imagepolitik. Umso wichtiger wäre es, dass Dokumentaristen sich dieser Welt beobachtend und analysierend annähmen – aber wer gibt ihnen schon die Zeit und das Geld für so schwierige Themen? Da halten sich die Sender doch lieber an irgendwelche Produktduelle oder Produktchecks, Fernsehen für Konsumenten, nicht für mündige Bürger.

Neu in dieser Woche kommt ein Film ins Fernsehen, der sich unspektakulär einem spektakulären Thema zuwendet: „Ritterblut – Verliebt in einen Knacki“. Sigrid Faltin hat eine Frau bei dem Versuch begleitet, ihre Liebe zu einem Häftling auch in der schwierigen Zeit nach der Haftentlassung zu bewahren. Mal wieder ein Dokumentarfilm in der ARD, wie immer zu einer Zeit, wenn die Talkshows im Urlaub sind (ARD, Mi 31.08.2016, 22.45-00.15)

Gleich fünf abendfüllende interessante Musikfilme oder genauer: Musikerporträts lassen sich in dieser Woche aus dem Programmfluss fischen.

Den Anfang macht „Sing Your Song – Das bewegte Leben des Harry Belafonte“ von Susanne Rostock. USA 2010. (BR, Di 30.08.2016, 22.45 – 00.25). Schon häufig zu sehen war die filmische Hommage an die berühmteste Stimme der 68er Bewegung in den USA und hier: “Joan Baez – How Sweet the Sound”. Von Mary Wharton. USA 2009BR, Di 30.08.2016, 00.35-02.25

Der gewiss bewegendste Film dieser kleinen, eher zufällig addierten Reihe ist“20 Feet from Stardom” von Morgan Neville, D 2015. Er erzählt von denen, die im Schatten der großen Popstars stehen, die ohne sie nicht wären,was sie sind: Backgroundsängerinnen (ARTE, Fr 03.09.2016, 00.50 – 02.20). Dann ein Porträt des Königs des Soul”, “Otis – The King of Soul” von Stefan Morawietz, D 2013. Mit “Sittin’ on the Dock of the Bay” wurde er weltberühmt, er hat trotz seine frühen Todes viele Musiker beeinflusst  (ARD Alpha, So 04.09.2016, 22.30 – 23.30). Schließlich ein Film des fleißigen Dokumentaristen Alex Gibney, der 2014 mit „Finding Fela“ dem berühmten nigerianischen Sänger und Menschenrechtler Fela Kuti ein filmisches Denkmal setzt. ARTE, So 04.09.2016, 23.55 – 02.00

Und, last but not least, treiben in der kommenden Woche noch einige relevante Filme in der Wiederholungsschleife vorbei. Etwa „Der grüne Prinz“, die kaum glaubliche Geschichte um einen prominenten palästinensischen Aktivisten, der für Israels Geheimdienst arbeitete (Phoenix, Fr 02.09.2016, 02.15). Einen Verräter ganz anderer Art porträtiert Annekathrin Henkel in „Anderson“, den Dichter vom Prenzlberg, der über die einschlägige DDR-Kunstszene der Stasi berichtete (ARD-Alpha, Fr 02.09.2016 21.00).  Grade rechtzeitig noch zu den Paralympischen Spielen in Rio bringt der HR Nico von Glasows Film „Mein Weg nach Olympia“ ins Programm, in dem der Autor sich von seiner Abneigung gegen Sport gründlich kurieren ließ (HR Do 01.09.2016, 22.45 und So 04.09., 01.00). In „Zum Glück Deutschland“ lassen Luzia Schmid und Birgit Schulz Flüchtlinge und Migranten einen Blick auf das Land werfen, das sie aufnimmt, wie auch immer (Phoenix, Sa 03.09.2016, 22.30)

Und was sonst noch läuft findet sich, wie immer ohne jede Wertung, in der Rubrik „Was sonst noch läuft“.

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