In der letzten Kolumne von „Übrigens bin ich der Meinung“ hat wolfsiehtfern ein kurzes Statement von Saskia Walker aus der Filmzeitschrift „Revolver“ zitiert, das auf einer starken Differenz zwischen Dokumentation und Dokumentarfilm besteht. Der Filmemacher und Grimmepreisträger Andreas Christoph Schmidt sieht das anders und hat es aufgeschrieben. Hier seine Replik.
Bin ich ein Dokumentarfilmer? Bin ich ein Dokumentarist?
„Ein Dokumentarfilm ist keine Dokumentation. […] Eine Dokumentation ist eine schnell gefilmte, schnell geschnittene, journalistische Betrachtung.“
Das würde ich wohl eher eine Reportage nennen.
„Ein in jahrelangem Suchprozess gedrehter, ohne im Vorfeld festgelegtes Aussageziel erarbeiteter, künstlerisch unabhängiger Film ist ein Dokumentarfilm.“
Ich wüsste jetzt anerkannte Dokumentarfilme zu nennen, nicht einmal nur schlechte, bei denen keine jahrelangen Suchprozesse stattfinden, sondern ein Hey-hier-komm-ich-mal-mit meiner-Kamera.
Mein erster Film war 18 Minuten lang. Also ein Kurzfilm. Ohne Kommentar. Also ein filmischer Essay. Auf 35mm gedreht und lief in Oberhausen. Also ein – Dokumentarfilm? Lutz Lehmann war damals Korrespondent der ARD in Moskau, er hatte von dem Film gehört und war bereits entsetzt, bevor er ihn sah: Ein Film, sagte er mir, ist 1 Minute 30 lang, 3 Minuten oder 5-7 Minuten, er kann auch 14.30 lang sein, 29 Minuten oder 43.30. Er kann sogar 90 Minuten lang sein. Aber er kann nicht 18 Minuten lang sein! Denn dann passt er in kein Sendeschema! – Da konnte man ja wohl nur ganz von oben auf den armen Korrespondenten blicken.
Mein dritter Film war eine Do… ja was? Über Isaak Babel, im Auftrag des SFB. Die nannten sowas damals „Feature“. 45 Minuten, später kam ARTE hinzu, Verlängerung auf 52. Verlängerung? Bitte, gerne, küss die Hand, gnä Frau! Kürzung? Jawohl, ja. Sicher, selbstverständlich, kann man alles rauskürzen, welches Stückerl hätten´s denn gern? Fietscha, ohnehin ein Mißverständnis und ein Wort, in Verkehr gebracht von Leuten, die „Coloraydo“ sagen. Ich wusste wirklich schon damals nicht, was ich da eigentlich mache – in bezug aufs Genre, sonst schon. Und ich weiß es heute noch nicht. Wohl weiß ich, dass ich damals dachte: Was für ein Glück hatte Beethoven, dass man zu seiner Zeit die Schallplatte noch nicht kannte! Die Neunte hätte es sonst nicht gegeben. Passt ja nirgends drauf. Kürzen Maestro! Fassen Sie sich kurz!
Seither ist die „Formatierung“ auf bestürzende Weise vorangeschritten, und begonnen hat es, glaube ich, in Straßburg. Blink blink, schaut alle her, wie hübsch ich bin! – Da versuchst du zu erraten, was Sender meinen, wenn sie einen bestimmten Programmplatz „formatieren“. Beispiel für ein Arte-Format aus der Vergangenheit: „Europäische Personen, die verbunden sind mit einem bestimmten Ort!“ (weiß nicht mehr, wie es genau hieß). Ich: Piotrowski und die Eremitage! Arte: Passt nicht. Weiteres Beispiel: „Moderne Künstler!“ – Ich: Ilya Kabakov! – Arte: Nein, es muss schon ein Künstler aus der ersten Reihe sein. (!) Noch ein Beispiel: „Personen von europäischem Rang, die man als Grenzgänger charakterisieren kann!“ Ich: Solschenizyn. Arte: Passt nicht. Ich könnte weitermachen, frage mich jedoch: Bin ich Dokumentarfilmer, bin ich Dokumentarist, bin ich wenigstens, was man heute „Autor“ nennt? Oder bin ich Lieferant, Klinkenputzer? Ohne Jux, mein Lieber: Wenn mich jemand nach menem Beruf fragt, schaue ich beschämt auf den Boden. „Ich mache Filme für´s Fernsehen.“ – „Ah, Serien!? Tatort?“ – „Nein, Kultur ähm… Geschichte äh… Dokumentation.“
Man kpönnte mich natürlich promovieren und sagen: Andreas, Du bist Dokumentarfilmer. Nur, es stimmt ja nicht, gemessen an den oben zitierten Stellen. Fast alle meine Filme sind für das Fernsehen gemacht. Ausschließlich, endgültig, Punkt. Sie unterwerfen sich zumindest den Längenvorgaben. Manchmal schummeln sie sich in eine Reihe hinein und wimpeln mit einem „Indikativ“ vor sich her. Wer nicht weiß, was das ist, ist Dokumentarfilmer.
„Die Linie zwischen den Genres zu verwischen, spielt dabei den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern in die Hände. Diese verschleiern mit der Behauptung, man zeige doch jede Menge Dokumentationen, die Tatsache, dass sie den Dokumentarfilm faktisch abgeschafft haben.“
Richtig ist an dieser Klage, dass im Fernsehen viel Mist läuft. Und wenige Dokumentarfilme. Ärgerlich ist an dieser von filmenden Hochschulprofessoren ohne Publikum schon öfter formulierten Klage, dass sie die Dokumentation verächtlich macht und von den Sendeplätzen vertreiben möchte. Richtiger wäre es, nicht zwischen den Genres zu unterscheiden, sondern einen Blick für Qualität zu entwickeln. Wieder zurückzugewinnen, würde ich sagen. Die Frage, ob Dokumentation oder Dokumentarfilm, würde dann nebensächlich.
Ich denke gern an den Film „Flug des Phönix“ von Robert Aldrich. Und zwar weil ich darin vorkomme. Überhöht. Da ist ein Flugzeug in der Wüste abgestürzt. Alle Versuche der Überlebenden, über die Sanddünen hinweg eine Oase zu erreichen oder sonstwie Hilfe zu finden, scheitern. Und da war auch ein Deutscher an Bord, der schleicht immer um das Wrack herum und murmelt was und macht sich Notizen in ein Heft. Wird von Hardy Krüger gespielt. James Stewart, der Flugkapitän, raunzt ihn an, was er da überhaupt mache. Wir haben ja noch den einen Flügel, sagt Hardy Krüger. Der ist noch heil und das Triebwerk auch. Wir könnten daraus ein Behelfsflugzeug bauen. – Wie er auf solche Gedanken komme, fragt Stewart. Er sei Flugzeugkonstrukteur, sagt Krüger. Waaas!!? – Die Todgeweihten sind wie elektrisiert und machen sich euphorisch an die Arbeit, nehmen das Wrack auseinander und tun alles, was der deutsche Ingenieur sagt. Da kommt durch einen Zufall heraus, im Gespräch, dass Hardy Krüger Konstrukteur von Modellflugzeugen ist. Dem Stewart bleibt das Herz stehen, und er geht auf Krüger los: Wenn er doch gleich gesagt hätte, dass er nur Spielzeugflugzeuge baut! Dann hätte man, statt hier zu verdursten, besser den Marsch durch die Wüste gewagt! Da ist der Hardy nun aber gekränkt, so wie ich gekränkt war, als ich vorhin die unsachgemäße Ausführung, was eine Dokumentation sei, las. – Wissen Sie überhaupt, sagt er, was ein Modellflugzeug leisten muss? Welchen Belastungen es ausgesetzt ist? Ein Ding wie das hier kann jeder bauen. Aber ein Modellflugzeug…
Ich stimme ihm von Herzen zu. Ich arbeite gerade an einem Film über sowjetische Kriegsgefangene in deutscher Hand. 43.30 für die ARD. Das wäre sicher ein Thema für einen großen Dokumentarfilm. Den anstelle der Dokumentation zu machen, wäre nicht schwerer, sondern einfacher.