Das ist eine Geschichte, die niemand erfinden kann. Ein palästinensischer Junge wird erschossen, seine Organe werden an verschiedene Kinder in Israel gespendet – so sieht der Nahostkonflikt aus der Geschichte einer Organtransplantation aus. (Noch in den Mediatheken von ARD und MDR)
Kinderlachen, ein Schulchor singt, Schüler laufen über den Schulhof, ein Lehrer pfeift auf einer Trillerpfeife. Kinderalltag. Die vierjährige Menucha aus Jerusalem schaukelt selig auf einer Spielplatzseilbahn bergab. Das drusische Mädchen Samach singt aus vollem Herzen im Chor. Und der sechsjährige Mohamed Kabua aus einer Beduinenfamilie schreibt zum ersten Mal seinen Namen auf die Schultafel. Nur der palästinensische Junge Ahmed aus Dschenin ist nicht dabei. Ahmed ist tot. Er starb im Herbst 2005. Und doch lebt er weiter, in Menucha, in Samach, in Mohamed.
Eine solche Geschichte kann niemand erfinden. Das Leben schreibt sie und sie spottet jeder Einbildungskraft. Folgendes war geschehen. Achmed spielte an einem Tag im Jahr 2005 mit Freunden auf einer Straßenkreuzung der palästinensischen Stadt Dschenin, die ein Flüchtlingslager ist. Sie spielten Araber und Juden. Ahmed trug ein Spielzeuggewehr und israelische Soldaten hielten die Waffe für echt. Sie erschossen den Jungen. Später wurde festgestellt, dass die Soldaten korrekt gehandelt hätten. Soweit furchtbarer Alltag im Westjordanland.
Ungewöhnlich wurde diese Geschichte durch das Verhalten von Achmeds Vater, Ismael al-Chatib. Als sein Sohn im Krankenhaus von Haifa starb, gab er die Organe zur Transplantation frei. Sechs sterbenskranke israelische Kinder bekamen die Organe, fünf überlebten. Für Ismael al Chatib, den Vater, lebt sein Sohn in diesen Kindern weiter. Deshalb wollte er sie auch kennen lernen und die Familien besuchen – ein schwieriges Unterfangen in besetztem Gebiet, um das die Israelis Zäune und eine Mauer gezogen haben.
Diese Reise hat der Dokumentarfilmregisseur Marcus Vetter zusammen mit dem israelischen Regisseur Leo Geller gedreht. „Herz von Jenin“ heißt dieser ungewöhnliche und bewegende Film. Er führt mitten hinein in den Brennpunkt Naher Osten. Er erzählt von einer Reise in das Innere dieses politischen und gesellschaftlichen Konflikts, von einer Reise durch besetzte Gebiete und durch okkupierte Köpfe. Man lernt mit Ismael al-Chatib einen eindrucksvollen und mutigen Mann kennen, dessen Tat durch all die ungelösten Probleme des Nahen Ostens durchscheinen lässt, dass es eine Lösung geben muss und geben kann.
Ismail al-Chatib hatte keine Bedingungen gestellt. Jedes kranke Kind, das ein Organ dringend brauchte, sollte es bekommen. So vorurteilslos waren nicht alle. Zum Beispiel nicht die jüdisch-orthodoxen Eltern von Menucha. Das spannungsgeladene Treffen zwischen dem Vater von Menucha und Ismael al-Chatib ist ein Höhepunkt des Films, aber letztlich hat Jakob Levinson doch am Film mitgearbeitet und sich auch als mutiger Mann erwiesen. Auf der Rückfahrt wird Ismael sagen, er werde Menucha wahrscheinlich nicht mehr wieder sehen. Sie werde zum Hass auf Araber erzogen. Dennoch: Hoffnung bleibt. Der Tod Achmeds und die Entscheidung seines Vaters hat das Leben vieler Menschen verändert. Auch das eigeneHeute leitet Ismael al-Chatib in Dschenin ein Kinderzentrum, in dem 200 Kinder aus dem Flüchtlingslager betreut werden, tanzen können, spielen, lernen. Eine italienische Stadt finanziert die Einrichtung.
„Das Herz von Jenin“. von Marcus Vetter und Leo Geller, D 2008, (MDR, 28.10.2015, 00.20-01.55)