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„#wowillstduhin“. Von Ina Reuter und Marko Rösseler.

Einfach auf den Bahnhof stellen, Leute fragen, wo sie hinwollen und dann mitfahren. Eine Idee, ein Stoff, zwei Formate. Zwei in eins. Einmal als klassische Fernsehdokumentation, ein andermal als Web-Doku. Ist das nur der gleiche Wein, einmal im alten, einmal im neuen Schlauch? Kann man das einfach auch zusammen rezensieren? Tagesschau 24, Folgen 1-4, Mo 14.08.20-15 – Do 17.09.2015

Der Stoff. Die Idee ist eine klassische Reportageidee, die dem Zufall als Dramaturg eine große Chance gibt. Bahnhof Köln, ein Knotenpunkt, täg-lich 250.000 Reisende. Einfach in die Bahnhofshalle stellen, Leute an-quatschen: wo fahren Sie hin? Warum fahren sie dorthin? Dürfen wir mitfahren? Mal sehen, wohin die Reise führt. Bahnhöfe sind per se Con-tainer für Geschichten, sie enthalten viel narratives Potential. Zugleich sind Bahnhöfe als Knotenpunkte eines vernetzten Systems natürlich be-sonders gut geeignet für eine vernetzte Erzählweise, in der der Zu-schauer /User selbst die eine oder andere Weiche stellen kann.

„#wowillstduhin“ ist zunächst mal eine Reportage über das Reisen. Über das Wegfahren, das Ankommen. Aber der Stoff liefert auch mehr als das. Reisen nicht nur als Bewegung von Ort zu Ort, sondern auch als Bewegung im Leben: Abschiednehmen, in ein Abenteuer aufbrechen, die Liebe suchen, etwas hinter sich lassen. Reisegeschichten als Lebensge-schichten. Der Zufall ist der Auslöser, aber dann zählt, was dem Zufall Bedeutung gibt.

Die Reisenden. Keine Urlauber, sondern Reisende im Wortsinn. Sinnsu-cher und Spinner. Liebende und Unglückliche. Menschen auf einem schweren Gang oder auf dem Weg zu einer lebenswendenden Heraus-forderung. Aussteiger mehrerer Sorten, grundsätzliche Aussteiger und Auszeitnehmer. Viele Künstler darunter: Musiker auf dem Weg zu einem Festival, ein Bildender Künstler, ein Filmemacher, der nicht viel von sich erzählt, ein Schriftsteller, ein Barocktänzerpaar, eine Tanzprofessorin, ein angehender Opernsänger. Das Übergewicht scheint leicht erklärlich: Künstler kennen die Bühne, sie scheuen die Kamera nicht und sie können performen. So hat man manchmal den Eindruck, die Züge seien voller reisender Künstler, wie eine fahrende Künstleragentur.

Die Doku-Serie. Vier Teile á 25 Minuten. In den vier Filmen jedes Mal kleine Gruppierungen mit drei oder vier Protagonisten. Die Themen sind in die Titel gefasst: „Die Liebe finden“, „Vom Wunsch, anzukommen“, „Nur Mut“ und „Davon hält mich nichts ab“. Die Geschichten werden miteinander verflochten. Zum angehenden Opernsänger, der auf dem Weg zur Aufnahmeprüfung an eine Musikhochschule ist, gesellt sich die amerikanische Tanzprofessorin auf dem Weg zum Unterricht und dazu der Heimorgelverkäufer aus Holland, frühverrentet, asthmakrank, auf dem Weg nach Hause; er hat diesmal keine Orgel verkauft. Die Ge-schichten sind geschickt narrativ aufgelöst, auch auf Spannung gebaut. Den angehenden Opernsänger hört man erst ganz am Ende der Episode über ein Ansteckmikrophon singen und dann erst weiß man: das wird nix.

In diesen Episoden lernt man die Protagonisten näher kennen, verlässt mit ihnen auch den Zug, begleitet sie an den Zielpunkt der Reise. Und kommt jeweils auf sehr besondere Geschichten. Da ist der eher schweigsame frühere Fernfahrer, der drei Stunden lang auf den Brenner fährt, um dort, im Cafe an der Grenzstation, einen italienischen Kaffee zu trinken, dann fährt er wieder zurück. Sein Tun und seine Erzählungen erzählen ein Leben in Konturen, ein wenig wie mit der Feder gezeichnet. Da sind Mutter und Sohn aus Moskau auf der Rückfahrt von einer Euro-pareise, die Familie ist reich, der Vater ein Berater (wovon erfährt man nicht), der Sohn studiert in Moskau, Wochenenden verbringen sie manchmal in einem Landhaus mit vier Angestellten. Neureich, einander fremd, alles etwas pastös aufgetragen. Oder, sehr speziell, Mosh, der Alkoholiker auf dem Weg zu einem Baugrundstück in Bulgarien, das hat er erworben, um dort ein „Rancho Relax“ aufzubauen; dann sitzt er erstmal auf grüner Wiese beim Picknick und seine Frau ist sauer, dass sie jedesmal 18 Stunden lang mit der bulgarischen Bimmelbahn in dieses Nichts fahren muss– ein Stück wie ein surrealistisches Minidrama von Quenau.

25 Minuten sind nicht viel Zeit und das ist wohl auch der Grund, warum einige der Geschichten nicht auserzählt sind und das Bedürfnis hinter-lassen, doch mehr wissen zu wollen. Warum bloß wollen die Atomkraft-gegner unbedingt in die Sperrzone um Tschernobyl illegal eindringen? Wollen sie Strahlung messen? Sich ihr aussetzen?

Am Ende jedenfalls ist man viermal mit jeweils drei bis vier Leuten Zug gefahren, hat ihre Geschichten gehört, sich gefreut oder gewundert. Dann ist die Doku fertig.

Die Web-Doku. Man ist mit ihr zwar auch irgendwann fertig, aber das ist nicht ihr Ziel. Es könnten immer noch Züge dazukommen, immer noch neue Passagiere, immer noch neue Ziele. Erstmal stehen virtuell drei Züge zur Wahl. Ein schneller ICE für die Jungen, die Abenteuersuchenden. Ein Regionalzug. Und einer, der nach Osten fährt, Russland, Ukraine, Bulgarien. In allen Zügen sitzen Leute und wohnen Geschichten. Wir haben eigenen, wenn auch eingeschränkten, Zugriff auf diese Geschich-ten und sind insofern nun nicht mehr passiv-virtuelle Mitreisende, sondern aktive Mitreisende. Wir können den Zug wechseln, in die Abteile hineinschauen, uns für diesen Menschen näher und für jenen gar nicht interessieren.
Für all dies machen uns die Autoren der Web-Doku Angebote. Zunächst einmal treffen wir auf viel mehr Personen. Nicht nur ausführlich erzählte Geschichten sind möglich, sondern auch kleine, dokumentarische Flashs. Da ist der Mann, der am liebsten am Montmartre auf den Treppen zu Sacre Coeur sitzt und ein Bier trinkt; kostet zwar neun Euro, aber das ist es ihm wert. Mehr erfahren wir nicht, aber das schon. Oder die alte Da-me, die immer mit „man“ von sich redet, 45 Jahre verheiratet war, den Partner verloren hat und nun von den Schwierigkeiten erzählt, allein zu reisen, während ihr Gesicht davon erzählt, dass ihr das Freude macht.

Manchmal haben die Autoren ein Kopfhörer-Signet auf den Bildschirm gelegt, dann kann man einfach nur reinhören. In der ersten Klasse or-ganisiert grad jemand seine Sekretärin per Handy, in einem Abteil wird nur gelacht, ein Hund sitzt auf dem Flur, den kann man bellen lassen und wenn man die Toilettentür anklickt, hört man dahinter die Vakuumspülung seufzen.

Mit dem einen oder anderen Reisenden, den die Doku-Gucker schon aus der Doku-Serie kennen, kann man sich näher befassen. Etwa mit der jungen Frau mit Liebeskummer, die nach Ungarn in die Ferien fährt. Bei ihr kann der User wählen, ob er sich mehr für ihre Liebesangelegenheiten oder mehr für ihre religiösen Auffassungen interessiert. Mit manchen kann man aussteigen, es aber auch bleiben lassen. Manchmal bietet die Web-Doku an, den Leuten ins Reisegepäck zu schauen. Beim Barocktänzerpaar ist der Koffer voll mit Kostümen; wer mehr wissen will, kann ihnen dann auch noch beim Proben und bei einer Aufführung zusehen. Der junge Programmierer, der seinen Job geschmissen hat und in Amsterdam neu anfangen will, nimmt uns mit auf Wohnungssuche – da kommt man auch nicht alle Tage hin. Und wer irgendwann mal keine Lust hat, sich all diese Geschichten anzuschauen, kann mit der Maus auch auf das Zugfenster schwenken und in die Landschaft schauen. Auf dem Weg nach Russland nichts als Birkenwälder – Zeit zum Meditieren.

Ein Stoff, zwei Erzählweisen, zwei völlig verschiedene Dramaturgien, also zwei verschiedene Weisen, sich an den Zuschauer zu wenden und seine Aufmerksamkeit zu erobern. Beide firmieren unter dem Vorsatz „es ist alles echt“, was in diesem Fall auf die Reisenden zutrifft. Manches Versprechen der Web-Doku ist Simulation, etwa die Aufforderung, man könne jetzt mit diesem oder jenem Reisenden sprechen. Aber das ist nicht weiter tragisch, man hat die Spielregeln längst akzeptiert und damit auch die vergnügte Leichtigkeit eines Experiments. Es geht alltags-philosophisch zu und man begegnet über den Zufall Geschichten und Lebensgeschichten von Belang, in ihrer Vielfalt und Besonderheit. So präsentiert, dass sie offen sind für Interpretation und Wertung.

Und zwischendurch, gelegentlich, wenn man als User virtuell im Zug auf dem Gang im Waggon steht, ploppt der Gedanke auf, es mögen doch in allen Abteilen Menschen sitzen und man könnte doch die Tür öffnen und all diese Geschichten einsammeln, auch die nicht erzählten, die nicht erzählbaren. Gewiss, die Web-Doku hat man irgendwann auch durch, aber potentiell ist sie unendlich. Und das könnte süchtig machen.

www.wowillstduhin.wdr.de: Eine Webdoku von Jürgen Brügger, Jörg Haaßengier und Rainer Nigrelli. Interesssant dazu auch das Interview mit Redaktionsleiter Mike Bialk, hier.

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