Permalink

0

Stand der Dinge: 38. Duisburger Filmwoche

27 Filme standen in diesem Jahr im Wettbewerb bei der 38. Duisburger Filmwoche. „Die Amplituden schlagen weit aus, sowohl im Thematischen wie Stilistischen“, befand die Auswahlkommission. Das Festival hat sich der Offenheit verschrieben: „Grenzgänger“ sind den Organisatoren ebenso willkommen wie „Mischformen“. Bei dem „Festival des deutschsprachigen Dokumentarfilms“, das in diesem Jahr vom 3. bis 9. November stattfand, vergeben die Kultursender ARTE und 3sat die Hauptpreise. Nachfolgender Text ist zuerst in epd-medien 46/14 erschienen.

Verluste sind zu verzeichnen. Drei Dokumentaristen, die auf der Duisburger Filmwoche immer einen festen Platz hatten und Preise heimtrugen, sind in diesem Jahr gestorben. Der Deutsche Harun Farocki, der Schweizer Peter Liechti und der Österreicher Michael Glawogger. Die 38. Filmwoche in Duisburg erinnerte: mit einer Fotoausstellung, einer Lesung, einer Filmaufführung. Dann gehörten die Tage wieder ganz den neuen Filmen.

In Duisburg, standen nunmehr zum 38.Mal deutschsprachige Filme im Wettbewerb. Parallel dazu läuft „dox’s – Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche“ in einem eigenen Wettbewerb. Arte und 3Sat vergeben die Hauptpreise, was zeigt, dass der Dokumentarfilm immer noch eng an die Produktionsmittel des Fernsehens gebunden ist; wenngleich die Zahl der Produktionen zunimmt, die ohne Fernsehen auskommen. Die Stadt Duisburg stiftet einen Förderpreis, das Land NRW ebenso, die Rheinische Post einen Publikumspreis. Vor allem aber hat Duisburg eine besondere Struktur: die Filme laufen nicht parallel, man kann mit ausreichender Kondition alle Produktionen sehen. Alle Filme werden diskutiert, Anwesenheit der Filmemacher ist erforderlich. Es sind viele Erst- und Uraufführungen zu sehen. Die Filmwoche ist überschaubar, familiär und wirklich ein guter Ort, über Dokumentarfilm nachzudenken und zu sprechen.

Wenn Dokumentarfilmer reisen

Zum Beispiel über Vielfalt der Filmsprachen. Der karge, ganz aufs Beobachten gestellte Film von Hans-Dieter Grabe über einen seiner Nachbarn steht da neben der quirligen, mit Überblendungen und Fiktionalem arbeitenden Identitätssuche eines Autors in Indonesien. Und die wiederum neben dem dokumentarisch-fiktionalen Protokoll der Münchner NSU-Prozesse. Wenn Dokumentaristen auf Reisen gehen, dann kann da so unterschiedlich ausgehen wie in der ruhigen, ganz den Protagonisten zugewandten Reise von Volker Koepp zwischen Ostsee und schwarzem Meer, eher eine Wanderung als eine Reise. Dagegen Stanislaw Muchas eilige und humorvolle Fahrt rund ums Schwarze Meer, eher Eindrücke und Pointen fischend. Und dagegen wieder Ruth Beckermanns Durchquerung Europas auf den Pfaden der Assoziation.

Oder, andere Perspektive: auf lange Zeiträume setzende Filme wie „Göttliche Lage“ von Ulrike Franke und Michael Loeken. Sie haben über fünf Jahre lang beobachtet, wie in Dortmund ein Industrierevier in ein Freizeitrevier verwandelt wird. Dagegen Thomas Heise, der sich nur wenige Wochen in einem mexikanischen Jugendgefängnis aufhält und seine Beobachtungen filmisch formuliert wie einen Ausriss aus dem Fluss der Zeit.

Vielfalt braucht ein eher allgemeines Motto, das hieß in diesem Jahr „Gut gedeutet“. „Gut beobachtet“ hätte wahrscheinlich besser gepasst. Viele Filme dieses Jahrgangs waren darauf aus, den Stand der Dinge zu erkunden, weniger eingreifend als sich einfühlend.

Deutsche Dokumentaristen suchen ihre Geschichten gern in der Ferne. Thomas Heise, eigentlich durch seinen besonderen dokumentarischen Zugriff auf deutsche Gegenwart bekannt, hatte vor zwei Jahren mit „Sonnensystem“ seinen Heimatplaneten verlassen und in Argentinien gedreht. Sein neuer Film „Städtebewohner“ spielt in einem Jugendgefängnis in Mexiko. Er entstand im Gefolge eines vom Goethe-Institut vermittelten Theaterprojekts in diesem Gefängnis. „Städtebewohner“, das mag man auf die Insassen der Haftanstalt beziehen, eine Stadt in der Stadt, aber es zielt auch auf Gedichte aus Bertolt Brechts „Lesebuch für Städtebewohner“, mit denen der Regisseur in seinem Theaterprojekt gearbeitet hatte. Im Film rezitieren jugendliche Häftlingen einige dieser Texte und diese entfalten in dem fremden Kontext eine erstaunliche expressionistische Kraft.

Die Kamera in Heises Film (Robert Nickolaus) bewegt sich sachte durch die Räume, beobachtet Menschen aus der Entfernung, notiert ihre Bewegungen und Gesten. Drei jugendliche Straftäter lernt man näher kennen. Sie sprechen über sich selbst und das sind ambivalente Gespräche, in denen man schon aushalten muss, was hier gesagt, beschrieben, vielleicht gelogen wird.

Es ist das Merk- und Denkwürdige an Heises Film, dass er einen Gefängnisfilm gedreht hat, der die Erwartungen an einen Gefängnisfilm nicht erfüllt. In Gefängnisfilmen steckt meist eine Moral, ein Appell, eine Vorhaltung, eine Botschaft. In Thomas Heises Film steckt nichts davon. Er ist zugleich sehr konkret und sehr abstrakt. Der Autor zeigt, was er sieht und versteht, das erlaubt, menschliches Verhalten genau zu beobachten. Das mag durchaus daran liegen, dass der Autor von außen kommt, Mexiko ist ihm fremd, die „Gefängniskultur“ wohl auch – vielleicht eine nützliche und vom Autor auch gesuchte Distanz, eine Form der Verfremdung. Ein kristalliner Film jedenfalls, bekam den Arte-Dokumentarfilmpreis.

Alte Kulturlandschaften

Volker Koepp reist durch das Land, das die alten Römer Sarmatien nannten, in dem poetischen Geist, aus dem heraus der Dichter Johannes Bobrowski seine sarmatischen Gedichte schrieb. Volker Koepp widmet seine Neugier schon seit langem der Welt östlich der Elbe, sucht die alten Kulturlandschaften auf , beobachtet die gesellschaftlichen Verwerfungen und, dies vor allem, spricht mit Menschen. Dieses Sarmatien reicht von der Ostsee bis ans Schwarze Meer, umfasst Litauen ebenso wie Moldawien, Belorus ebenso wie die Ukraine.

Volker Koepp, dem vielleicht schon nach Bilanzziehen ist, reist auch durch seine eigenen Filme. Vor bald 15 Jahre hat er in Czernowitz, der Stadt von Paul Celan und Rose Ausländer, seinen vielleicht bekanntesten Film gedreht, „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“. Er zitiert aus seinem Film (und man bekommt sofort Lust, ihn noch einmal anzusehen), reflektiert aber auch, was geworden ist, wie politische Konflikte wahrgenommen werden, in der Ukraine, in Moldawien. Wie immer findet Volker Koepp hochinteressante Gesprächspartner wie die Übersetzerin Anna, die aus Moldawien kommt, in Jena lebt, aber ihrer Heimat und ihrer Familie verbunden bleibt. Das macht die Kunst von Volker Koepp aus – die individuellen Geschichten überführt er in Geschichte und Gesellschaft. „In Sarmatien“ ist ein Film, dessen Nuancen man unbedingt braucht, wenn man mit den tagesaktuell wechselnden politischen Krisen überfordert ist.

Noch ein Film der leisen Töne und Nuancen: „Padurea e za muntele, vezi? Der Wald ist wie die Berge“. Didier Guillain und Christiane Schmidt erzählen von einer Roma-Familie in einem rumänischen Dorf. Es fahren noch Pferdekutschen umher und alte Traktoren. Es gibt nicht mehr viel Arbeit, zur Kartoffelernte werden die Dörfler als Tagelöhner engagiert. Kurz und schmerzlos verlässt einer der Männer das Dorf, vermutlich um Arbeit anderswo zu suchen. Die Nöte sind allgegenwärtig, aber Aron Lingurar ist auch enthusiastisch. Er ist Chef des Dorfes, organisiert für alle, was er nur organisieren kann und doch wird ihm das Chefsein allmählich auch schwer. Ein Bild einer besonderen Großfamilie und dann auch wieder die Blicke auf das Dorf von einem Hügel außerhalb, bei wechselnden Jahreszeiten und wechselnden Stimmungen. Die Zeit steht hier still. Der Film bekam den Förderpreis der Stadt Duisburg.

Leichtfüßig

Was Stanislaw Mucha aus einem solchen Stoff gemacht hätte? Er ist der Feuilletonist unter den Dokumentaristen, ein Autor mit einem Gespür für bizarre Situationen und besondere Menschen und ein Liebhaber der Pointe. In „Tristia – eine Schwarzmeer-Odyssee“ führt er seine Zuschauer rund um das Schwarze Meer, durch viele Länder und viele Konfliktzonen: Abchasien, Georgien, Ukraine. Die kriegerischen Konflikte in der einen Region waren schon vorbei, in der anderen noch nicht aktuell ausgebrochen. „Tristia“ ist ein Film der Grenzgänge, die Mucha freilich so unternimmt, dass man davon vieles nicht merkt. Er liebe die Grenzgänger, merkte er in der Diskussion an, aber nicht Grenzen – auch eine europäische Botschaft. Wie bei allen Filmen von Mucha fühlt man sich bestens unterhalten und hat doch auch hinterher das Gefühl, etwas leichtfüssig davon gekommen zu sein.

Das gilt ganz gewiss nicht für „Those who go, those who stay“ von Ruth Beckermann, ein filmischer Essay über Europa, das nicht weiß, wie es mit den Flüchtlingen umgehen soll. Eine Szene spielt auf Lampedusa. Man sieht die gebräunten Touristen und die Segelboote im Hafen. Man sieht kaum die zwei Boote mit arabischer Schrift, ganz abseits im Hafen gelegen; Flüchtlingsboote. Man soll sie auch gar nicht sehen. Der Kameramann, erzählt die Regisseurin, habe sich sehr verrenken müssen, um einen Schwenk zwischen diesen beiden Polen hinzubekommen.

Ruth Beckermanns Film ist auch einer über das Filmemachen und über dokumentarische Wege, Realität wahrzunehmen und darzustellen. Alle Szenen, an verschiedenen Orten und mit verschiedenen Personen, sind bewusst fragmentarisch gehalten. Damit macht es die Autorin den Zuschauern nicht grade leicht. Sie setzt viel Wissen voraus. In einer der letzten Einstellungen etwa sehen wir einen Jungen, der mit einer berühmten Istanbuler Straßenbahn fährt. Dazu griechische Musik. Wer aber nicht weiß, dass in dieser Straße hat in den fünfziger Jahren ein Pogrom gegen griechische Geschäftsleute stattgefunden hat, wird durch diese Szene nicht daran erinnert werden. Man soll bei ihrem Film nicht zu viel denken, gab die Autorin den Zuschauern als ihre Empfehlung mit und tatsächlich spiegelt dieser merkwürdige Rat auch eine gewisse Hermetik und Selbstgefälligkeit des Films wieder.

Mit „Göttliche Lage – eine Stadt erfindet sich neu“ eröffnete die Duisburger Filmwoche, eine Referenz natürlich auch an die Region. Ulrike Franken und Michael Loeken erzählen in einer Langzeitbeobachtung vom Kulturwandel am Phoenix-See in Dortmund. An die Stelle der Stahlindustrie tritt die Freizeitindustrie, aus der Industriebrache erwachsen Häuser für Vermögende und die Stadtverwaltung scheitert mit ihren perfekten Plänen schon mal daran, dass ihnen die schnell zuwandernden Kanadagänse die Wiesen und das klare Wasser versauen. Dann sind da noch die Verlierer des Kulturwandels, eine Büdchenbesitzerin, alteingesessene Bewohner von Dortmund-Hörde, Zaungäste. Die beiden Autoren bringen bei allem Engagement genügend Distanz auf, um das Treiben um dieses Projekt mit sanfter Ironie zu betrachten. Immer wieder liefern sie wunderbare Situationskomik, hinter der Ernst steckt.

Deutsche Geschichten

Dass der Preis spricht, damit hat einst die Baumarktkette Praktiker geworben, vor der Insolvenz. „Hier sprach der Preis“ nennt Sabine Jäger ihren Film über den Niedergang. Drei Protagonisten in den letzten Tagen eines Baumarkts in Bruchsal, Elena und Marianne, die am Service-Point arbeiten und der Marktleiter. Aus ihrer Perspektive wird erzählt. Die Schnäppchenjäger ziehen eine Spur der Verwüstung durch die Regale, eklige Kunden feilschen um die letzten Cent, für das Schicksal der Baumarkt-Angestellten interessiert sich niemand. Eine britische Firma hat die Insolvenzmasse gekauft und verramscht nun die Ware bei fröhlicher Verkaufsdudelmusik. Das alles ist schlüssig erzählt, die Kamera hält sich oft weit entfernt von den Frauen auf, schaut durch ein Fenster auf sie oder streift durch die immer leerer werdenden Regale. Eine Sozialstudie, deutsche Wirklichkeit, bekam den Nachwuchspreis des Landes Nordrhein-Westfalen.

„Wem gehört die Stadt?“ ist der Titel eines Songs der Kölsch-Rockgruppe „Brings“. Im Film von Anna Ditges spielten sie ihn auf einem Straßenfest auf dem Helios-Gelände in Köln Ehrenfeld. Das Gelände lag brach, ein Investor interessierte sich, eine Shopping-Mall sollte entstehen – da bildete sich eine Bürgerinitiative und wollte Kultur angesiedelt sehen, günstige Wohnungen, ein bürgerschaftliches Herzstück des Viertels. Öffentlich zugänglichen Raum in einem dicht bebauten Viertel.

Der Film dokumentiert diesen Prozess, man lernt die Interessen der einzelnen Beteiligten kennen, die Schwerfälligkeit städtischer Planung auch. Mit Aktivitäten der Bürgerinitiative kann die Verwaltung nicht recht umgehen, das hat sie nicht gelernt und die BI hat viele kompetente Experten in ihren Reihen. Anna Ditges gelingt es, sehr anschaulich diesen Prozess zu schildern, die Interessen sichtbar und erkennbar zu machen. Obwohl der Stoff ja filmisch nicht unbedingt viel hergibt: Straßenfeste, Interviews, viele viele Versammlungen mit vielen Rednern. Am Ende sind die Debatten noch lange nicht abgeschlossen, im Quartier haben sich neue, tragfähige Netzwerke unter den Bürgern gebildet, aber die Stadt hat kein Geld.

„Striche ziehen“ von Gerd Kroske, ist einer der wenigen Filme in diesem doch so zeitgeschichtsgesättigten Jahr, der sich für deutsche Geschichte interessierte. Der Titel stammt aus einer Kunstaktion Anfang der Achtziger Jahre an der Berliner Mauer, West – mit einem dicken weißen Strich aus dem Farbroller ganz Berlin zu umrunden und so das Einschließende der Mauer kenntlich zu machen. Dahinter steckt die Geschichte einer Punkgruppe aus Weimar. Zwei Brüder gehörten dazu, einer verriet die Freunde an die Stasi. Das hat allen Gefängnis eingetragen, danach stellten sie Ausreiseanträge und trafen, einer nach dem andern in Westberlin ein, auch die beiden Brüder Jürgen und Thomas. Der Zusammenhalt der Gruppe bestand noch, so kam es zur Mauer-Strich-Aktion.

Der Autor erzählt mit seinem Film aber nicht nur ein wenig bekanntes Kapitel aus der DDR-Subkultur und eine Geschichte von Freundschaft und Verrat, er greift selbst ein. Will den einen zur Offenbarung vor der Kamera treiben, konfrontiert die Brüder, vergeblich. So erzählt „Striche ziehen“ vor allem von einem Bruderkrieg, den der Filmemacher selbst noch befeuert, ohne die eigene Rolle dabei zum Thema zu machen. Bekam den Publikumspreis der Rheinischen Post.

Dokumentarischer Auftrag

Eine besondere Rolle in mehrfacher Hinsicht spielte der Film über den Münchner NSU-Prozess von Soleen Yusef und Thorsten Wiemer (Produzent). Er ist Teil eines größeren Projekts der Süddeutschen Zeitung. Die Redaktion protokolliert dankenswerterweise das Verfahren und destillierte aus diesen Protokollen Akteure und Situationen, Dialoge und Beobachtungen. Um auch ein Publikum dafür zu interessieren, das nicht zu Zeitungen greift, sollten die Szenen auch filmisch für you tube umgesetzt werden. Aus diesen Sequenzen entstand, chronologisch geordnet, dieser Schwarzweißfilm. Dieser Auftrag ging an die Filmstudentin Soleen Yusef. Sie wählte eine szenische Lösung. Vier Schauspielstudenten der Filmakademie Ludwigsburg trugen die Protokolle in szenischer Lesung vor, mit wechselnden Rollen, in statischer Anordnung.

Festzuhalten, was in diesem Prozess geschieht, vor allem auch die Erfahrungen der Opfer, die jahrelang falschen Verdächtigungen der Ermittler ausgesetzt waren– das ist klarer, klassischer dokumentarischer Auftrag. Insofern ein tolles Projekt. Die Bedingungen freilich sprechen diesem Engagement Hohn. Dreieinhalb Wochen war Zeit, von der Lektüre der Protokolle bis zur Fertigstellung der Szenen. Gedreht wurde an einem einzigen Tag, die Kamera bedienten die beiden Autoren, beide keine ausgebildeten Kameraleute, beide aus dem Spielfilmbereich kommend. Eigenen Zugriff auf das Material hatten sie nicht, geliefert wurde das Textkonvolut von der SZ-Redaktion.

Diese Bedingungen sieht man dem Film natürlich an, in einer gewissen Inkonsequenz in der Kameraführung, in unklaren Überlegungen, wie man aus der dokumentarischen Inszenierung oder dem inszenierten Dokument für den Zuschauer mehr Erkenntnisse herausschlagen könnte, in dramaturgischen Schwächen. Das ist den Autoren nicht vorzuwerfen. Wohl aber ist anzumerken, dass ein so wichtiges Projekt offenbar mit der linken Hand möglichst kostengünstig abgefertigt wird. Eine Fortsetzung über das zweite Jahr des Prozesses ist in Planung, die Arbeitsbedingungen sind wieder nicht besser.

Erkundungen über das Ich

Das erzählende, sich selbst und seine Herkunft erforschende Ich hat im Dokumentarfilm durchaus auch eine Tradition, auch im diesjährigen Duisburger Programm. „Padrone e Sotto“, Herr und Knecht heißt ein Kartenspiel, das in Süditalien gespielt wird. Der Schweizer Regisseur Michele Cirigliano kennt das Spiel und er kennt das italienische Dorf, weil seine Eltern von dorther kommen. So richtig verstehen lernt man das Spiel während des Films nicht, es geht darum, wer wen zum Trinken einladen muss. Betrunken sind am Ende die Gewinner und nüchtern die Verlierer. Aber das Spiel ist selbst für Außenseiter schnell erkennbar als eine Metapher auf die italienische Gesellschaft. Hier darf, ja muss geschummelt werden. Es gibt Regeln, aber sie werden immer wieder verletzt und manchmal macht pure Macht den Gewinner.

Glücklicherweise ist der Regisseur so klug und genau, dass er die Ebene des Konkreten nie verlässt. Er erforscht diese Welt, die er selbst als Kind kennengelernt hat, er beobachtet die Männer beim Kartenspiel, ihre Revierkämpfe, ihre wechselnden Bündnisse und Gegnerschaften. Er weitet den Blick auf ihre Tätigkeit außerhalb des Cafés, begleitet sie beim Jagen und beim Schlachten, beleuchtet ihr soziales Umfeld. Enza, die lebenskluge Wirtin, weiß die Männer genau einzuschätzen.

Für die Zuschauer bedient der Regisseur sich eines intelligenten dramaturgischen Tricks. Eingangs sehen wir in der Runde der Männer einen Jungen, der mit großen Augen versucht, etwas von dieser Welt zu erfassen und zu verstehen. So, sagt der Regisseur, habe er sich vor dreißig Jahren auch gefühlt. Damit etabliert er einen Grundton des Staunens – über eine sehr andere und doch europäische Welt.

„Riding my Tiger“ des Schweizer Filmemachers Ascan Breuer ist der Schlussstein einer Trilogie, die sich mit Indonesien und indonesischer Geschichte befasst. Die Mutter des Autors ist Indonesierin. Zu den Familienmythen gehört die Geschichte vom Tigergeist, der das Haus der Familie in Indonesien bewohnt und den noch keiner gesehen hat, der aber gern die Wände zerkratzt, wenn die Bewohner etwas tun, was ihm nicht passt. Der Autor reitet also seinen ganz persönlichen Tiger, besucht das Familienhaus, in dem nur noch ein Onkel wohnt, denn in diesen globalisierten Zeiten lebt die Familie über die ganze Welt verstreut. Ascan Breuer sucht die kulturellen Traditionen, arbeitet auf opulente und vergnügliche Weise Spieltechniken des Wayang-Schattentheaters in seine Selbstfindung ein und liefert über die alten Spielfiguren eine sehr originelle Sicht auf die indonesische Geschichte.

Überraschende Erfahrungen

Um eine Selbstfindung geht es auch in „Portrait of a lone farmer“ von Jide Tom Akinleminu. Der Filmemacher nigerianischer Herkunft lebt in Dänemark. Sein Vater hat sich entschieden, in Nigeria zu bleiben. Der Sohn besucht ihn, um ihn und damit auch sich selbst besser verstehen zu können. Der Film bekam den 3Sat-Preis, die Jury begründete ihre Entscheidung, es gelinge dem Autor „in seinem wunderbar offenen Film ‚Ich‘ zu sagen, ohne eitel oder prätentiös zu wirken. Er scheint sich dabei bewusst zu sein, dass die Konzepte von Identität in der Welt von heute überdacht werden müssen.“ Er betrachte „den Alltag dieses ‚Lone Farmers‘ mit einem neugierigen, gleichwohl nüchternen Blick. Daraus ergibt sich eine schöne Gewichtung zwischen Distanz und Vertrautheit. Auch die Anwesenheit der Kamera wird dabei nicht verschwiegen, immer wieder spielen die Akteure mit deren Präsenz. Am Ende steht nicht das Pathos der Versöhnung oder die große Antwort; auf der Fahrt zurück verliert die Straße sich im Nebel während Spuren im Sand die Erzählung beenden.“

Auch Hans-Dieter Grabe hatte im Lauf der Jahre viele Filme in Duisburg vorgestellt. 78 Jahre ist der Filmemacher und ehemalige ZDF-Redakteur alt– und jetzt noch einmal ein Film von ihm: „Raimund – ein Jahr zuvor“. Ein privater Film auf den ersten Blick und ein karger. Es geschieht nicht viel: ein Mann zersägt drei Festmeter Holz, um für die nächsten drei Jahre Brennholz im Haus zu haben. Er ist 72 Jahre alt, er arbeitet sorgfältig, vorsichtig, geduldig. Die schweren Stämme müssen so bewegt werden, dass sie nicht ins Rollen kommen. Er schneidet mit der Motorsäge das Holz in dicke Scheiben, die bringt er mit einem Traktor zu seinem Grundstück. Fünf Drehtage lang beobachtete ihn Hans-Dieter Grabe mit der Kamera und man sieht, hier beobachtet ein Handwerker einen Handwerker: sorgfältig, respektvoll, geduldig. Arbeit des Sehens. Eine Menge Metaphern fallen einem ein, die Holzschneiden und Filmemachen gemeinsam haben: dicke Bretter bohren, geduldig und konzentriert sein, seine Sache ernst nehmen.

Die Rahmenbedingungen dieses einfachen und schönen Films erfährt man aus einigen Schrifttafeln. Raimund ist der Nachbar des Autors, er ist in Rente, er pflegt auch die Anlagen der Gemeinde. Einige Zeit nach den Dreharbeiten erkrankte Raimunds Frau an Krebs, sie starb acht Monate später. Danach hat Raimund sich umgebracht. So setzt der Film diesem unbekannten Mann ein Epitaph. Und von Hans-Dieter Grabe, der die ganze Welt bereist hat, lässt sich sagen, dass er selber nicht aufgehört hat, die Welt zu erkunden, jetzt eben die in seiner nächsten Nähe.

In einem Werkstattgespräch mit dem Autor, klug und kenntnisreich geführt von Gabriele Voss, fielen dann noch ein paar Sätze, die man gern in jeder Fernsehredaktion an die Wände gepinnt sähe. Grabe sprach von der „furchtbaren Unsitte“ in Zeitgeschichtsfilmen, „dass man seinen Protagonisten nicht vertraut und deshalb Archivmaterial hinzufügt.“ Und: „Wenn man den Dokumentarfilm liebt und ihm vertraut, dann kann man wunderbare überraschende Erfahrungen machen.“

 

Kommentare sind geschlossen.