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Erweitern Animationen die Möglichkeiten des Dokumentarfilms? Von Fritz Wolf

Mit „Waltz with Bashir“ war ein Anfang gesetzt: der Animationsfilm erweitert die Mögichkeiten dokumentarischen Erzählens. Ein Überblick darüber, was sich in den letzten Jahren im Genre Animadoc getan hat.

Die UNO hat kürzlich in einer Untersuchung Nordkorea schwerster Menschenrechtsverletzungen beschuldigt: Versklavung, Folter, Entwürdigung in Arbeitslagern. Man hat das wissen können, zumindest wenn man sich für Dokumentarfilm interessiert. Der Dokumentarfilmer Marc Wiese hat in seinem Film „Camp 14 – Total Control Zone“ das Schicksal des ehemaligen Lagerinsassen Shin Dong-hyuk dokumentiert. Geboren und aufgewachsen im Lager Kaechong im Norden Nordkoreas, kann er erst mit 23 Jahren fliehen. Er hat Folter erlebt, die Ermordung von Mutter und Bruder mitansehen müssen. Marc Wiese erzählt die Geschichte dieses seelisch und körperlich versehrten Mannes auf eindringliche Weise. Einer der wichtigsten Dokumentarfilme der letzten Jahre.

Im Zusammenhang dieses Textes ist „Camp 14“ auch noch auf andere Weise exemplarisch. Die erinnerten Szenen aus dem Arbeitslager zeigt der Film in animierten Bildern. Karge Zeichnungen, Bleistift, Kohle, graue, düstere Atmosphäre, knappe szenische Auflösungen der grauenhaften Geschichten. Spärliche, aber eindringliche Mittel. Wenn die Folterer sich an ihre Arbeit machen, zeigt ein aufsteigender Zigarettenrauchfaden, dass sie es sich dabei grade gemütlich machen. Manche Zeichnungen wiederum erzählen wie Comics eine Szene aus wechselnden Perspektiven, draußen – drinnen, nah – fern.

Marc Wiese löst mit den animierten Bildern das Problem, dass er keine Filmdokumente aus den Arbeitslagern hat – nur eine einzige, heimlich gedrehte Aufnahme eines Verhörs hat er einbauen können. Darüber hinaus leisten die Zeichnungen aber noch ganz anderes. Sie stehen in einem starken Spannungsverhältnis zu den verstörenden Geschichten, die der Protagonist zu erzählen hat. Sie geben seinen Worten und seinem Schweigen die nötige Tiefe, sind weniger Illustration eines Geschehens als Ausdruck seiner Erfahrungen. Es sind gerade die animierten Sequenzen, die dem Film seine besondere Wahrhaftigkeit geben. Als Art-Designer ist der Kölner Künstler Ali Soozandeh für die Animationen verantwortlich.

Damit ist „Camp 14“ eines der jüngeren Beispiele dafür, dass die Verschwisterung zweier Filmformen, des dokumentarischen Films und des Animationsfilms, in zwei Richtungen eine große Bereicherung sein kann. Sie erweitert die Möglichkeiten des dokumentarischen Erzählens. Die Verbindung von Animationsfilm und dokumentarischem Film ist, wie der Filmwissenschaftler Kay Hofmann belegt hat, nicht ganz neu. Sie ist in verschiedenen Phasen der Filmgeschichte immer mal wieder ausprobiert worden, im Kurzfilm auch häufiger. Jetzt aber, auch im Gefolge computeranimierter Bilder, macht der Animationsfilm im langen Dokumentarfilm Karriere. Es gibt inzwischen eine Reihe sehr unterschiedlicher Filme mit sehr verschiedenen ästhetischen und erzählerischen Lösungen. Das Leipziger Dokumentarfilmfestival trägt dem Rechnung und hat inzwischen eine eigene Sektion unter dem Titel „Animadoc“ eingerichtet.

Auslöser für den Boom dieser hybriden Filmform, war sicher der Film „Waltz with Bashir“. Regisseur Ari Folman erzählt darin seine eigene Geschichte. Er war als Soldat im ersten Libanonkrieg eingesetzt, hat die Kriegserfahrungen wie viele seiner Kameraden verdrängt und holt sie nun über eine animierte Filmerzählung ans Licht. „Waltz with Bashir“ ist durchgängig animiert, nur ganz am Schluss fügt der Regisseur Bilder aus den Massakern in den Palästinenserlagern Schabra und Schatila ein. Das Dokumentarische in diesem Film sind die Erinnerungen des Autors und die Erzählungen seiner Kameraden, sie bilden die Basis der Erzählungen.

Die Animationstechnik in diesem Film war sehr aufwendig. Erst wurden Filmszenen mit Schauspielern gedreht, aus diesen Szenen wurden Storyboards angefertigt, sogenannte Animatics und aus dieser Version entstanden dann 2300 Illustrationen, die dann anschließend animiert wurden. Ein Prozess der Verdichtung und auch der Verallgemeinerung. Und obwohl nahezu der ganze Film aus animierten Bildern besteht, wirkt er durch und durch wahrhaftig, nirgendwo ausgedacht, bloß bebildert oder dramatisiert.

Diese Effekt gesteigerter Wahrhaftigkeit liefert auch „Greenwave“ von Ali Samadi Ahadi – der Film lief im Fernsehen in einer 52-Minuten Version unter dem Titel „Iran Election 2009 und in einer 45-Minuten-Version als „Where’s my vote“. Der Autor erzählt von den dramatischen Ereignissen im Iran während und nach den Wahlen 2009, wo Demonstrationen gegen die Wahlfälschung vom Regime brutal niedergeschlagen wurden. Er hat insofern keine Bildernot, als es über Handyfotos und Videobilder zahlreiche Filmdokumente der Geschehnisse gibt. Gleichwohl erzählt er den Hauptteil seiner Geschichte über einen sogenannten Motion Comic. Er benutzt die Technik der animierten Bilder zur Verdichtung. Seine dokumentarische Basis sind neben Zeitzeugen und den Handyvideos auch zahlreiche Internet-Blogs, in denen Demonstranten über ihre Erfahrungen berichten.

Aus diesen Blogs hat Samadi zwei fiktive Figuren kreiert, einen jungen Studenten und eine Krankenschwester, die in die Unruhen geraten, bedroht, verhaftet und gefoltert werden. Die Animationen erlauben dem Regisseur aber nicht nur, Szenen zu zeigen, bei denen keine Kamera zugegen war. Er kann damit vor allem das innere Erleben seiner Protagonisten darstellen. Er bedient sich dabei einer sehr ausdrucksstarken Farbdramaturgie, die vom hellen Grün der Hoffnung auf Veränderung vor den Wahlen über das Blutrot der Verletzungen bis zum Tiefschwarz der Kerker des Mullah-Regimes reicht.

In seiner Verbindung moderner Erzählmittel wie Blogs, Handyaufnahmen und animierten Comicszenen ist „Greenwave“ in der Filmlandschaft ein bislang einzigartiges und geglücktes Experiment geblieben. Verantwortlich für die Animationen in „Greenwave“ ist auch in diesem Fall Ali Soodandeh. Und die Bilder hier sehen vollkommen anders aus als in „Camp 14“. Das zeigt, dass die hybride Verbindung von Animation und Dokument als ästhetische Lösung jeweils vom Stoff und den Erzählabsichten her entwickelt werden muss.

Das beweist auf ganz andere Weise auch die Filmemacherin Katrin Rothe. Schon in ihrem Erstling „Stellmichein“ hat sie animierte Sequenzen eingesetzt. Sie erzählte da von jobsuchenden Zeitgenossen und ihren Bewerbungsgesprächen, die ja nicht unter Beobachtung von Kameras stattfinden. Ähnlich ist die Situation in ihrem jüngsten Film „Betongold- Wie die Finanzkrise in mein Wohnzimmer kam“. Der handelt davon, wie sie selbst in Gefahr gerät, aus ihrer Berliner Wohnung herausgekündigt zu werden. Auch hier sind die animierten Szenen zunächst einmal Antwort auf Bildernot – bei Maklerbesichtigungen durfte die Autorin nicht drehen. Aber die Animationen leisten viel mehr. Gentrifizierung ist dringliches politisches Thema, auch in vielen mahnenden, aufgeregten TV-Magazinbeiträge. In Katrin Rothes Film geben die animierten Figuren dem Film einen anderen, leichteren Grundton, der ihr erlaubt, witzig und selbstironisch zu erzählen – und damit das Thema auch für andere leichter aufzuschließen.

Noch ein viertes Beispiel aus aktuellen Produktionen. „Wagnerwahn“ eine Produktion der Gebrüder Beetz zum Wagnerjahr 2013 ist der Versuch, ein Kulturthema populär und mit heutigen Mitteln zu erzählen. Heutig, das heißt in diesem Fall auch mehrfach hybrid. Die Geschichte um Wagners Tod und Leben wird einerseits fiktional erzählt, in stark stilisierten Szenerien mit Samuel Finzi und Pegah Ferydoni, andererseits mit Krimimitteln, in denen Experten wie Profiler agieren. Dazwischen verwendet Regisseur Ralf Pleger auch einige animierte Szenen: Venedig im Sturm in Wagners Todesnacht etwa.

Diese Szenen sind ein besonderer Teil des Crossmedia-Projekts „Wagnerwahn“, ein durcherzählter Comic, eine Graphic Novel. Sie funktioniert nach der Dramaturgie des Netzes und gibt den Usern die Möglichkeit, sich ihre eigenen szenischen Wege zu bahnen und weitere Informationen aus dem Hintergrund einzuspielen. Dieser Wagner-Comic ist nur zu einem kleinen Teil in den Fernsehfilm eingegangen, existiert aber als eigenständiges Werk, das die Causa Wagner noch einmal aus anderer Perspektive und mit anderen erzählerischen Mitteln anpackt. Die hybriden Teilmengen existieren nebeneinander, für unterschiedliche Medien und für unterschiedliche Publika.

Vier Beispiele, vier unterschiedliche Lösungen. Die Liste ließe sich fortsetzen. „Persepolis“ von Marjane Satrapi und „Hautfarbe Honig“ erzählen ihre persönlichen Lebensgeschichte fast in Vollanimation – dokumentarische Basis ist hier die autobiographische Erinnerung.

Der kambodschanische Filmemacher Rity Panh erinnert sich in „Das fehlende Bild“ an sein Leben unter den Roten Khmer mit Hilfe kleiner Tonfiguren – und erreicht damit eine unglaubliche dramatische Verdichtung.

In einer TV-Dokumentation über das Jahr 1913, im Vorfeld der Ersten-Weltkriegs-Erinnerungen, werden frei nach Florian Illies Buch mögliche historische Spekulationen in animierten Sequenzen verpackt: Hitler und Stalin haben im Februar 1913 beide in Wien gelebt, man weiß, dass sie beide gern im Schönbrunner Schlosspark spazieren gingen. So zeigt die Animation, wie die zwei damals noch unbekannten schaurigsten Figuren des 20. Jahrhunderts aneinander vorbeigegangen sein könnten; vorstellbar sogar, dass sich im Vorübergehen gegrüßt und höflich den Hut gelupft haben.

Der Dokumentarist Dominik Wessely wiederum hat für seinen Film über Georg Kreisler („Georg Kreisler gibt es gar nicht“) Studenten den Auftrag gegeben, einige von Kreislers Liedern im Zeichentrick zu illustrieren, genauer, sie in diesem Medium zu interpretieren. Im Ergebnis sieht man eine schöne Vielfalt unterschiedlicher Handschriften, individuelle Sichten auf Kreislers böse Lieder. Die Animationssequenzen standen dann auch für sich, als eigenstündige Arbeiten im Netz.

Die Liste, wie gesagt, ließe sich mühelos verlängern. Es scheint fast, als käme es in Mode, Dokumentationen mit zeichnerischem Material aufzupeppen. In der Reihe „Geschichte im Ersten: Absturz im Wald“ über die gefälschten Hitlertagebücher war animiert zu sehen, wie im April 45 Flugzeug über den sächsischen Wäldern abstürzt, in dem Gerüchten zufolge auch die Hitlertagebücher waren. In „Meisterdiebe im Diamantenfieber“ schildert Havana Markin in animierten Szenen nicht nur die unverfilmten Coups sondern auch das Privatleben der Bankräuber – mehr als ein filmischer Gag? Es ist zu vermuten, dass animierte Szenen immer häufiger die Stelle von Re-Enactment-Sequenzen einnehmen oder auch jene pseudodokumentarischen Detail-Bilder ersetzen, mit denen Dokus gern Authentizität und/oder Spannung suggerieren.

Es finden sich aber eben auch zahlreiche Beispiele dafür, dass die Verbindung zweier verschiedener Filmformen tatsächlich etwas Neues erzeugt. Dass die Animation das dokumentarische Genre weitertreibt zu neuen Erzählhorizonten. Das sind dann Filme, die eine besondere Position der Wahrhaftigkeit behaupten gegenüber der dokumentarischen Wahrheit des direct cinema oder schon gar gegen die dramatisierten und skandalisierten Behauptungen etwa des politischen TV-Magazinjournalismus.

In „Camp 14“ erzählt Shin Dong-hyuk in einer der erschütterndsten Szenen wie er als Kind Mutter und Bruder verraten hat, weil er es nicht anders wusste, weil es ihm normal schien, weil er Gehorsam gelernt hatte. Er wird verhaftet, inhaftiert und zusammen mit seinem Vater am Tag der Hinrichtung seiner Mutter und seines Bruders freigelassen. In erster Reihe muss er die Hinrichtungen mit ansehen. Mit Mühe nur findet Shin Dong-hyuk die Worte, die Zeichnungen machen Erleben und Stimmung dieser entsetzlichen Stunde vorstellbar. Die Entlassung aus dem Gefängnis, die Fahrt den Stacheldraht entlang, dann der Hinrichtungsplatz, auf dem schon Hunderte warten: Bilder ohne jede äußere Dramatik. Hier der Galgen, dort das starre Gesicht des Jungen, der nicht gelernt hat, um seine Mutter zu trauern. Schnee fällt und überzieht alles mit großem hellem Schweigen.

Erstmals erschienen in epd-medien 9/2014

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